Klimawandel

Würfeln für den Kohleausstieg

Wie kamen die Milliardensummen für Kohlekonzerne zustande? Der Bundestag debattierte in einer Aktuelle Stunde über die CORRECTIV-Recherche zu den fragwürdigen Entschädigungen.

von Annika Joeres

Bundestag
4,35 Milliarden Euro für Kohlekonzerne - aber weder SPD noch CDU wollen im Bundestag erklären, wie die Summe zustande kam. (Foto: Kay Nietfeld / picture alliance / dpa)

Der aufschlussreichste Satz kam von Staatssekretär Thomas Bareiß (CDU): „Nun lassen Sie uns doch nach vorne gucken“, sagte er am Freitagabend im Bundestag. Bareiß musste für das Bundeswirtschaftsministerium in einer Aktuellen Stunde die fragwürdige Berechnung der Entschädigungen für die Braunkohlekonzerne verteidigen: Die Bundesregierung hatte im vergangenen Jahr beschlossen, RWE und Leag 4,35 Milliarden Euro für den Kohleausstieg bis 2038 zu zahlen. „Der Ausstieg musste einvernehmlich mit den Kohlekonzernen stattfinden,“ sagte Bareiß.

Dass der Christdemokrat lieber nach vorne als in die Vergangenheit schauen möchte, ist verständlich: Bis heute verschweigt die Bundesregierung, wie sie die Milliardensumme berechnet hat. Die hohen Entschädigungen für Kohlekonzerne für einen im internationalen Vergleich sehr späten Ausstieg aus der klimaschädlichen Energie sind zum Politikum geworden.

Die Fraktion der Grünen hatte eine Aktuelle Stunde im Bundestag beantragt, nachdem CORRECTIV und Der Spiegel am vergangenen Wochenende die Formel veröffentlicht hatten, mit denen die Bundesregierung einst die Entschädigungen für Braunkohlekonzerne durchgespielt hatte. Sie sollte kalkulieren, welche Gewinne den Konzernen durch die gesetzlich beschlossene Abschaltung ihrer Kraftwerken entgehen. Für diese soll der Staat entschädigen.

Günstig nur für die Kohlekonzerne

Die Formel ging in vielen Variablen von sehr günstigen Annahmen für die Konzerne aus, was zu der überraschend hohen Summe führte. Zwar behaupten das Ministerium und auch Bareiß im Bundestag nach wie vor, diese frühe Berechnung habe „keinen Eingang in die Kabinettsbefassung“ gefunden. Allerdings: Wer diese Formel nutzt, kommt genau auf die Summe von rund 4,4 Milliarden Euro, die bis heute aktuell ist.

In die Debatte um den Artikel von CORRECTIV hatte sich zuvor schon Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) eingeschaltet – auf Twitter. In dem Kurznachrichtendienst warfen ihm viele Umweltverbände vor, den Kohlekonzernen „Geld geschenkt“ zu haben. Darauf ging Altmaier nicht ein – seine einzige Reaktion war es, sich nun von der hauseigenen Formel zu distanzieren. „Nicht das BMWi oder ich haben über diese Frage entschieden, sondern die Bundesregierung insgesamt, einschließlich des Finanzministers, der an den Verhandlungen eng beteiligt war“, schrieb der Christdemokrat.

Wurde der Kohleausstieg überhaupt berechnet?

Allerdings ließ auch er die beiden entscheidenden Fragen unbeantwortet: Wie kann die Formel nur ein Entwurf sein, wenn sie zur aktuellen Entschädigungssumme führt? Und wenn diese Formel, die laut CORRECTIV vorliegenden Dokumenten im Januar 2020 im Bundeswirtschaftsministerium kursierte, nicht die richtige ist, wie lautet die richtige? Wie wurden die Milliarden-Entschädigungen berechnet?

Auch im Bundestag haben weder CDU- noch SPD-Abgeordnete erklärt, wie die zehnstellige Summe zustande kam. Bareiß sagte lediglich, der „langwierige Prozess des Ausstiegs aus der Kohleindustrie“ habe nicht in eine Formel gefasst werden können. Sein SPD-Kollege Thomas Jurk sagte gar, im Kohleausstiegsgesetz sei aus gutem Grund „keine Berechnung“ vorgelegt worden. „Dazu hätten wir Spekulationen anstellen müssen.“

„Herr Bareiß, Sie hatten heute neun Minuten Zeit, uns die Formel zu erklären. Aber darüber verlieren Sie kein Wort“, sagte Lisa Badum, klimapolitische Sprecherin der Grünen Bundestagsfraktion. „Erst sprechen sie von einer formelbasierten Entschädigung, nun wollen sie selbst von einer Berechnung nichts mehr wissen“, so Badum. So würden Konzerne für entgangene Profite entschädigt, die sie ohnehin nie erreicht hätten. Die Bundesregierung mache Geschenke an die Industrie und würge zugleich bürgernahe, erneuerbare Energien ab.

Der FDP-Abgeordnete Martin Neumann stellte die Frage: „Wenn Sie keine Formel benutzt haben und auch keine Berechnung – haben Sie gewürfelt?“

Zu hohe Entschädigung für Kohleausstieg 

Für die Aktuelle Stunde dürfte sich auch die EU-Kommission interessieren. Denn die Wettbewerbskommission prüft gerade, ob die deutschen Entschädigungssummen nicht eigentlich verdeckte Beihilfen sind. Der Ausgleich für den vorzeitigen Ausstieg müsse „auf das erforderliche Mindestmaß beschränkt werden“, sagte die für Wettbewerbspolitik zuständige Vizepräsidentin Margrethe Vestager bereits im März. Die bisher zur Verfügung stehenden Informationen, so die EU-Kommissarin, erlaubten nicht, dies mit Sicherheit zu bestätigen. Mit anderen Worten: Bislang vermutet die EU-Kommissarin, dass Deutschland den Konzernen zu viel Entschädigung gezahlt hat – eine Vermutung, die sie mit vielen Experten teilt, die wesentlich geringere Summen berechnet hatten. Vielleicht bestätigt die Formel die Befürchtung Vestagers. Greenpeace hat die Formel inzwischen bei der EU-Kommission eingereicht.

Tatsächlich war vor der Entscheidung über die Entschädigung nicht einmal klar, ob den Konzernen überhaupt Geld für ihre entgangenen Gewinne zustehen sollte. In einer parlamentarischen Anfrage vom März 2019, also neun Monate vor Verkündung der 4,35 Milliarden Euro für die Kohlekonzerne, sprach die Bundesregierung noch von „etwaigen Entschädigungen.“ Und sagte damals, es sei nicht möglich, bis 2038 die Strombörsenpreise zu simulieren. Dies sei „wenig aussagekräftig“. Und doch: In der Formel taucht eine solche Simulation nun wieder auf.

Der Text wurde am 22.05.21 aktualisiert.